Hinein ins Unbekannte

Eine Geschichte vom Hasen und der Eule

„Ich habe Angst“, flüsterte der Hase zur Eule, die neben ihm am Höhleneingang gelandet war.
„Angst? Wovor?“ 
„Vor der Angst selbst. Sie blockiert den Höhleneingang mit ihrer düsteren Gestalt, lauert dort mit Klauen aus Schatten und will jeden packen, der müde und schutzsuchend einen Schlafplatz sucht.“
Ängstlich duckte sich der Hase unter den Flügel der Eule. 
Die Eule blieb ruhig.

„Sieh mich an“, sagte sie sanft.
„Was siehst du, wenn ich meine Flügel ausbreite?“
Der Hase blickte von der Eule zum Boden, wo eine dunkle, körperlose Masse ihn zu verschlingen schien, als ihre Flügel sich vor den runden Mond hoben.
„Deinen Schatten“, wisperte er. „Er ist überall.“

Die Eule nickte.
„Alles hat einen Schatten. Eine dunkle und eine helle Seite. Du siehst nur die dunkle Seite der Angst. Aber auch sie hat eine helle Schwester. Du musst sie nur finden.“
Der Hase hob fragend den Kopf, doch da breitete die Eule ihre Flügel aus und stieg lautlos empor, bis ihr helles Gefieder mit der Nacht verschmolz.

Verwirrt blieb der Hase zurück. Konnte es wirklich stimmen, dass die Angst eine helle Schwester hatte? 
Zögernd sprang er näher an den Höhleneingang heran, bis er die kalten Hände der Dunkelheit auf seinem Fell spürte.
„Angst“, flüsterte er in die Finsternis.  
„Was ist deine helle Schwester?“

Die Angst schwieg. Doch etwas regte sich. Die klauenartigen Schatten verdichteten sich, die verzerrten Konturen wurden schärfer, bis sie nicht mehr geisterhaft die Finsternis zerschnitten, sondern Silhouetten enthüllten, die den Hasen an etwas Vertrautes erinnerten. Vorsichtig näherte er sich, bis er erkannte woran: Die Klauen der Angst waren Wurzeln! Doch keine gewöhnlichen –ein verwobener Palast aus knorrigen Türmen, Kuppeln und winzigen Häuschen entsprang aus der Erde und rankte sich an den Höhlenwänden empor.

Mit großen Augen beugte sich der Hase über eines der Häuschen. In seine Rindenwand war ein winziges Fenster geschnitzt, kaum größer als ein Stecknadelkopf. Dahinter glomm ein zartes Licht – wie ein entfernter Stern. War das das Reich der Wurzelwichte, jener scheuen Waldbewohner, die kaum jemand je zu Gesicht bekam?

Vor lauter Aufregung über seine Entdeckung vergaß der Hase seine Furcht. Vorsichtig, um die Wurzelwichte nicht zu erschrecken, schlich er zurück zum Höhleneingang. Die Eule wartete bereits auf ihn.

„Was siehst du nun in der Höhle?“, fragte sie ihn sogleich.
Die Augen des Hasen funkelten.  
„Wurzelhäuser! Winzigen Fenster, die in der Dunkelheit leuchten – und dahinter noch viele weitere Abenteuer! Es ist …“ Er stockte. „Es ist gar nicht mehr dunkel. Die Angst … sie ist fort.“

Er deutete auf den Eingang, der zuvor noch finster gewesen war. Jetzt konnte er sie selbst aus der Ferne erkennen – die Wurzeln, die sich ins Dunkel wanden, und das Leuchten, dort, wo das Fenster des Wurzelwichtes lag. 

Die Eule nickte.  
„Es ist deine Neugier, die die Angst vertreibt, Schatten zu Licht wandelt und ein Leuchten in dir entfacht, das dich durch die Dunkelheit führt. Sie ist die helle Schwester der Angst. Und du kannst immer entscheiden, wem du folgst: der Neugier oder der Angst.“

zoefee